Nur nicht liegen bleiben – Ein Illschwanger über sein Schicksal und das Leben im Rollstuhl

Götzendorf bei Illschwang
05.01.2022 - 16:50 Uhr
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Man darf hinfallen – aber nicht liegenbleiben. Der Illschwanger Johannes Maier hat diesen oft leeren Sinnspruch auf seine Art mit Leben gefüllt. Maier ist wirklich hart gefallen – und trotz Querschnittslähmung nicht liegen geblieben.

Auf dem Rasen vor dem Elternhaus ging Johannes Maiers altes Leben zu Ende. Und fast wäre es an diesem Sonntagabend im November 2009 ganz um den damals 19-Jährigen geschehen gewesen. Seine Mutter sah Johannes ins Gesicht, als er aus dem Fenster im oberen Stockwerk des Hauses im Illschwanger Ortsteil Götzendorf (Landkreis Amberg-Sulzbach) sprang. Der Vater saß auf der Terrasse und hörte den dumpfen Aufprall. "Ich lag auf dem Bauch, die Knie in den Rasen gebohrt", schreibt Johannes Maier zwölf Jahre später über den Moment.

Er selbst weiß von diesen letzten Stunden seines alten Lebens nichts mehr, muss sich aufs Tagebuch seiner Mutter verlassen. Sonst hat Maier detaillierte Erinnerungen an jene Zeit und an das, was seither passiert ist. Der heute 31-Jährige hat sie in einem Buch aufgeschrieben – 12 Jahre auf über 500 Seiten. "Es ist mehr als nur nicht laufen", lautet der Titel. Das Buch soll Mutmacher sein, erzählt er im Gespräch mit Oberpfalz-Medien. Dabei sitzt er seither im Rollstuhl, verbrachte Monate im Krankenhaus, benötigte Jahre, um die gesundheitlichen Probleme zu überwinden, die er sich beim Sturz zugezogen hat.

Maier macht aber auch kein Geheimnis daraus, dass er die dunklen Gedanken nicht völlig überwunden hat, jene Gedanken, die ihn ab Frühjahr 2009 quälten und letztlich bis zum Sprung aus dem Fenster trieben. "Gerade jetzt im Winter, wenn ich nicht raus kann, kommt die Depression manchmal zurück." Er müsse aufpassen, um sich nicht darin zu verlieren. Gerade deshalb strahlen aber auch die Erfolge umso heller. Maier zeichnet kein unrealistisches Bild, in dem alle Schwierigkeiten überwunden wären. Er zeigt, wie er sein Leben meistert – trotz allem. Wie er gesundheitliche Probleme gelöst, einen neuen Job als Buchhalter beim Logistiker TLA in Ursensollen gefunden, sein eigenes Haus bezogen hat.

Die Handlung des Buchs beginnt am 3. April 2009. Es ist der Tag, an dem der beste Freund Marco einen schweren Autounfall hat. Tage später verstirbt Marco im Amberger Klinikum. Gemeinsam mit ihm hatte Johannes eine Oberpfälzer Dorfjugend verbracht: Kirwa, Disco, Freunde treffen, Fußball bei der DJK Ammerthal – einfach Spaß haben. Beruflich steht Maier kurz davor, seine Elektriker-Ausbildung abzuschließen.

Überlebensschuld-Syndrom

Marcos Tod verändert ihn. Die Trauerphase will nicht enden. Statt dessen entwickelt er Schuldgefühle, für die es keine rationale Erklärung gibt. "Es gibt das sogenannte ‚Überlebensschuld-Syndrom‘. Menschen leiden nach dem Tod einer anderen Person an schweren Schuldgefühlen, obwohl sie nichts mit dem Tod der anderen Person zu tun haben", erklärt der Psychiater Dr. Markus Wittmann, der am Bezirksklinikum in Wöllershof als Ärztlicher Direktor arbeitet. Das Syndrom sei oft bei Holocaust-Überlebenden diagnostiziert worden. Das Syndrom könne häufig mit traumatischen Ereignissen in Verbindung gebracht werden, auch beim plötzlichen Tod eines Angehörigen, auch dann, wenn es gar keine Beteiligung an diesem Tod gegeben habe, sagt Wittmann weiter.

Johannes Maier kann die Gefühle anfangs vor allem beim Fußball vergessen. Doch die Gedanken kehren wieder. Später, in der Klinik erfährt er von einer Psychologin, dass zu diesem Zeitpunkt aus "normaler" Trauer längst eine Depression geworden war. Die wird manchmal so heftig, dass er Kontrolle und Erinnerung verliert. Der damals 19-Jährige weiß über Stunden nicht, was er getan und gesagt hat. Solche "Einengungen von Denken und Wahrnehmung" seien unter diesen Bedingungen gar nicht so selten, erklärt Experte Wittmann. "In diesem konkreten Fall könnten die Phasen, in denen sich der Betroffene an ganze Abende nicht mehr erinnern kann, Ausdruck von sogenannten Dissoziationen sein, die nach traumatischen Ereignissen manchmal auftreten."

Tod von Robert Enke triggert

Einen solchen Blackout erlebt Johannes auch an jenem Novembersonntag. Die Erinnerung verschwindet, als er nach einem Fußballspiel im Sportheim sitzt. Erst Wochen später im Krankenhaus setzt sie wieder ein. Bis heute habe er keine Erklärung. Er habe nie Suizid-Gedanken verspürt, sagt er heute. Es falle ihm deshalb schwer, seinen Sprung aus dem Fenster so zu nennen. Im Buch spricht er von einem Unfall. Andererseits schreibt er auch über Robert Enke und dessen Suizid fünf Tage vor dem Vorfall. "Meine Mutter sagt, dass ich mich nach der Nachricht verändert habe", erzählt Maier. Zuvor hatte sie den Eindruck, dass es mit ihrem Sohn aufwärts ginge. Nach der Tod Enkes sei Johannes noch trauriger und stiller geworden. Dass der Fall Enke Folgen für Maiers Stimmung hatte, sei nicht überraschend, sagt Wittmann. "Medien können nach allgemeiner Annahme dazu beitragen, Gedanken über einen Suizid zu triggern." Man spreche hier vom Werther-Effekt. Der Name geht auf ein Goethe-Werk zurück, von dem die Forschung lange annahm, dass es im 18. Jahrhundert zu nachahmenden Suiziden geführt hätte.

Johannes Maier überlebt den "Unfall". Obwohl er in den ersten Tagen und Wochen im Klinikum Bayreuth oft und viel weinen muss, sei er sich von Anfang an bewusst gewesen, dass er sein Überleben als zweite Chance verstehen will. Dabei hatte er eben nicht nur damit zu kämpfen, dass er nicht mehr laufen konnte. Durch den Bruch der Halswirbelsäule und die Verletzung des Rückenmarks ist der gesamte untere Teil des Körpers von der Steuerzentrale im Gehirn abgeschnitten. Was das insbesondere für Blasen- und Darmfunktion bedeutet, muss Maier auf die harte Tour lernen. Der Buchtitel "Es ist mehr als nur nicht laufen" kommt nicht von ungefähr. Erst nach mehreren Jahren und einem speziellen urologischen Eingriff bekommt er die Probleme mit der Blase und die ständige Infektionsgefahr in den Griff.

Inklusion macht nur kleine Fortschritte

Es dauert auch, bis er sich in seiner neuen Rolle als vermeintlich "Behinderter" in der Welt die Gehenden zurechtfindet. Als Sportler und fitter, junger Mensch trifft ihn nicht nur das Eingeschränkt-sein, sondern auch die Reaktion der anderen. Die verstörenden Blicke beim ersten Besuch mit Rollstuhl in einem Café beschreibt Maier besonders eindringlich. Gerade, weil er die andere Seite kennt, kann er diese Momente auch für nicht beeinträchtigte Menschen nachvollziehbar machen.

"Das ist das andere Ziel meines Buchs. Auf die Situation von Rollstuhlfahrern hinweisen", sagt Maier. Trotz aller Bemühungen um Inklusion gebe es nur kleine Fortschritte. Wegen des Pflasterbelags kann er bis heute nicht alleine durch Ambergs Altstadt rollen. "Und wenn ich spontan mit der Bahn einen Ausflug machen will, habe ich keine Chance." Der Bahnhof in Amberg ist nicht barrierefrei, wenn er dort Hilfe haben will, muss er sie zwei Wochen vorher beantragen. Anders sehe es in Großstädten aus. "Dort bemerkt man, dass Barrieren verschwinden." Ein Umzug komme trotzdem nicht in Frage. "Die Natur in meiner Heimat gibt mir Kraft. Außerdem sind hier meine Familie und meine Freunde." Denn auch das ist klar: Ganz ohne Hilfe kann Maier nicht leben. Vor allem seinen Eltern ist er deshalb sehr dankbar.

Über diese Abwägungen und Gedanken, aber auch über den Bau seines Hauses und damit verbundene Probleme schreibt Johannes Maier regelmäßig auf Twitter als "Dernimmaläuft" unter dem Handle @majo907. Über diesen Account ist auch Verlegerin Renate Brandes auf Maier und seine Geschichte aufmerksam geworden. Sie gab Maier die Chance, alles aufzuschreiben und unter die Menschen zu bringen. Das Buch "Es ist mehr als nur nicht laufen" gibt es nun für 16,99 Euro (oder 14,99 als E-Book) im Handel. Wieder eine Chance, die Maier ergriff und auf die er nun stolz zurückblickt.

Amberg15.10.2019
Amberg10.09.2018
Info:

Wie umgehen mit gefährdeten Angehörigen

Psychiater Dr. Markus Wittmann gibt Tipps:

  • Die Umstände sind individuell unterschiedlich, allgemeine Verhaltensempfehlungen sind schwer zu geben. Grundsätzlich gilt: Sobald man sich Sorgen macht und Zweifel am Zustand eines Angehörigen hat, sollte man professionelle Hilfe hinzuzuziehen.
  • Ein klares Zeichen für Gefahr ist die tatsächliche Suizidandrohung. Diese sollte nie als "Spaß" abgetan werden.
  • Auch eine sich neu einstellende Ruhe und Ausgeglichenheit "bei zuvor vorhandenem psychischen Leid" kann Warnsignal sein. Man spreche dann von der „Ruhe vor dem Sturm“.
  • Die Beurteilung sei auch für Expertinnen und Experten im Einzelfall oft schwer. Die Unterscheidung von normaler Trauerreaktion, krankhafter Trauerverarbeitung und Depression sei vor allem kurz nach einem Ereignis nicht immer möglich, das Auftreten von Suizidalität stellt aber grundsätzlich einen Interventionsbedarf dar.

Dr. Markus Wittmann, Ärztlicher Direktor des Bezirksklinikums Wöllershof.
Weiden in der Oberpfalz03.03.2023
 
 

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