Als ein Oberpfälzer Soldat geheime Atom-Pläne am Boden fand

Poppenricht
21.07.2022 - 18:06 Uhr
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Kurt Steindecker erzählt seine brisante Geschichte, die vom Kalten Krieg, einem US-Soldaten und Atom-Plänen handelt. Sie spielt in einer Zeit, in der ein Angriff aus dem Osten dramatische Folgen gehabt hätte – auch in Ostbayern.

Kurt Steindecker sitzt in seinem Garten in Poppenricht (Landkreis Amberg-Sulzbach). Eine leichte Böe weht über die Terrasse hinweg und lässt das bunte Blumen-Windrad neben ihm drehen. "Das hier ist mein kleines Paradies", sagt er und blickt in einen Garten, der gepflegter nicht sein könnte. Die Stille im Paradies wird aber gestört – von einem Donnergrollen, das circa alle fünf Minuten wiederkehrt. "Das sind die Amis in Grafenwöhr. Wenn der Wind so weht wie heute, dann hört man die Geschütze vom Übungsplatz", sagt er. Die bunte Blume dreht eine neue Runde, aus der Ferne grollt es wieder – als wäre ein schweres Gewitter im Anmarsch.

Der 77-Jährige hat ein Fotoalbum vor sich liegen. Er zeigt auf alte Bilder, auf denen er als Soldat zu sehen ist. Und dann erzählt er seine Geschichte. Es ist eine brisante Geschichte, die auch mit den Amerikanern und einer Windböe zu tun hat. Und es ist eine Geschichte, die erzählt, dass ein Angriff aus dem Osten wohl dramatische atomare Folgen gehabt hätte. Viele Menschen hätten ihr Leben verloren – auch in Ostbayern.

Wir springen in den Mai im Jahr 1965. Der damals 19-jährige Kurt Steindecker leistete seinen Grundwehrdienst bei der deutschen Luftwaffe auf dem Fliegerhorst in Erding ab – einem Flugplatz, der auch viele Jahre von der US-Armee genutzt wurde. Er wurde dort im Stab, genauer in der Personalabteilung eingesetzt, weil er in seinem bürgerlichen Leben bei der Brandversicherung in Amberg und Regensburg gearbeitet hat. "Ich hatte also Erfahrung im Büro." Und in dieser Zeit entdeckte er am Flugplatz in Erding brisante Informationen, die laut seinen Aussagen nie für seine Augen bestimmt waren.

"Höchste Sicherheitsstufe"

"Ich ging mit einem Kameraden zum Mittagessen", erzählt er. Auf dem Weg zur Kantine des Flugplatzes mussten sie an der Fernmeldestelle der US-Armee vorbei. "Das war sowieso schon ein Ort, der die Blicke wie magisch angezogen hatte, er war mit Gittern versehen, es herrschte die höchste Sicherheitsstufe." Ein US-Soldat kam durch die Tür der Fernmeldestelle, in der Hand hielt er eine Schreibtisch-Schublade, er sei über den Gang nach draußen ins Freie gegangen, um die Schublade in ein Fahrzeug zu laden. "Dann kam eine Windböe", sagt Steindecker. Ein paar Papiere wurden aus der Schublade geweht. Die beiden Bundeswehr-Soldaten beobachteten die Situation und rannten ihm hinterher. Sie wollten dem US-Soldaten helfen. "Sie waren ja schließlich unsere Freunde und Verbündeten." Doch der US-Soldat habe nichts bemerkt und fuhr davon. "Jetzt standen wir plötzlich mit den Papieren da."

Also gingen Steindecker und sein Kamerad zum Oberstleutnant, um ihm die Papiere zu zeigen. Als er diese las, sei er bleich geworden. "Er fragte uns: ‚Um Gottes Willen, was habt ihr denn da gefunden?‘" Die Ränge der folgenden Gesprächspartner wurden schnell höher. Sie wurden zum Stabskommandeur und schließlich zum Regimentskommandeur geschickt. Dieser sei dann deutlich geworden: "Für eure Sicherheit kann ich nicht mehr garantieren."

Die beiden jungen Soldaten seien zu Geheimnisträgern geworden. Denn in den Papieren war laut Kurt Steindecker von den US-Plänen eines atomaren Sprenggürtels in Deutschland zu lesen. Steindecker und sein Kamerad sollten den Fliegerhorst nicht mehr verlassen und auch sonst immer zu zweit unterwegs sein, rieten ihnen die Vorgesetzten.

Ganze zwei Wochen hätten sie große Angst gehabt und sich bei schnellen Schritten hinter ihnen umgedreht. Die drastischen Warnungen des Regimentskommandeurs hatten ihre Spuren hinterlassen. Und dann? War der Spuk vorbei. In der "Bild"-Zeitung sei plötzlich von den Plänen zu lesen gewesen. "Wir wurden namentlich nicht erwähnt und auch nicht gezeigt." Doch es sei von "zwei Bundeswehr-Soldaten, die etwas erfahren haben" zu lesen gewesen. Kurt Steindecker fühlte sich ab diesem Zeitpunkt auf jeden Fall wieder sicher. "Wir waren ja jetzt nicht mehr die alleinigen Geheimnisträger, irgendwer hatte die Informationen an die Zeitung weitergegeben."

Doch wie realistisch ist es, dass ein Bundeswehrpflichtiger an strenggeheime Atom-Pläne der USA gelangt? 57 Jahre später konnte die von Oberpfalz-Medien kontaktierte Springer-Archivarin den von Kurt Steindecker thematisierten Bild-Artikel auf jeden Fall nicht mehr finden. Das kann aber auch an der Fülle der Berichterstattung zu diesem Thema liegen. Denn seit Januar 1965 habe die Springer-Presse mit all ihren Zeitungen ausführlich zu diesem Thema geschrieben, erklärt die Expertin. "Ich hätte mir den Artikel aufheben sollen, habe ich aber nicht", ärgert Steindecker sich heute.

"Schon sehr außergewöhnlich"

"Ich möchte dem Kameraden auf jeden Fall nicht die Glaubwürdigkeit absprechen und glaube auch nicht, dass er flunkert. Doch der Vorfall ist schon sehr außergewöhnlich", ordnet Jürgen Reichardt diese Geschichte ein. Er ist Generalmajor a. D. der Bundeswehr. Reichardt hat den Kalten Krieg also aus nächster Nähe miterlebt. Er war ab 1982 Sprecher des damaligen Verteidigungsministers Manfred Wörner (CDU). Später war er unter anderem Kommandeur der 4. Panzergrenadierdivision in Regensburg.

Reichardt verweist noch einmal darauf, dass Unterlagen, die als "top secret" galten, eigentlich nicht in offenen Schubladen herumgetragen wurden. "Diese waren immer in Leitz-Ordnern eingeordnet und rot oder gelb markiert." Er könne sich höchstens vorstellen, dass es sich vielleicht um Einsatzpläne des Geschwaders mit atomaren Zielen gehandelt haben könnte. "Aber Pläne über ADMs würde ich ausschließen" erklärt er.

Die sogenannten Atomic Demolition Munition oder Atomic Demolition Means (ADM, im Deutschen "Atomare Sprengminen" genannt) sollten nämlich entlang der innerdeutschen Grenze vergraben werden, um so bei einem gefürchteten Angriff des Warschauer Paktes, also der ehemaligen Sowjetunion und ihren Verbündeten, einen unüberwindlichen Sperrgürtel zu schaffen.

Fakt ist: Schon Ende 1964 waren alarmierende Meldungen über einen geplanten Sperrgürtel aus atomaren Minen in die deutsche Öffentlichkeit und Berichterstattung durchgesickert. Der "Spiegel" widmete dem Thema sogar die Titelgeschichte seiner ersten Ausgabe im Januar 1965 und beschrieb darin mit drastischen Worten einen möglichen Ablauf: "Wo die Besatzung noch lebt, ist sie verstrahlt, ohne sich dessen bewußt zu sein. Minuten später zwingen entsetzliche Schwindelgefühle sie dazu, sich zu erbrechen. (...) Der Atomkrieg hat begonnen."

Hof in der gefährlichen Zone

Publiziert wurde im "Spiegel" damals zudem eine Karte, die den geplanten Einsatzort solcher nuklearer Minenfelder zeigte: Ungefähr parallel mit der innendeutschen Grenze verlief demnach eine Linie – auch bei Würzburg und Nürnberg – bis zur damaligen deutsch-tschechoslowakischen Grenze. Östlich dieser Linie, in der Zone A, sollten im Kriegsfall atomare Waffen eingesetzt werden – und atomare Sperrwaffen, eben genau diese ADMs. Die Stadt Hof hätte zum Beispiel innerhalb dieser besonders gefährdeten Zone gelegen.

Hintergrund dieser Planungen war die damalige zahlenmäßige Überlegenheit der Streitkräfte des Warschauer Paktes. Einem Angriff aus dem Osten mit konventionellen Waffen standzuhalten, war also nicht sicher möglich. Daher behielt sich die Nato vor, einen solchen Angriff auch mit Atomwaffen zu stoppen. Dazu wären die Bomben an kritische Stellen wie Verkehrswegen oder strategischer, kritischer Infrastruktur gebracht worden, um Wege zu zerstören und damit das Vorrücken des Gegners zu behindern. Weitere mögliche Einsatzgebiete waren Tunnel, Autobahnen, Dämme oder Brücken. "Die Überlegungen mit den ADMs gab es, ja", bestätigt auch Jürgen Reichardt. In Ostbayern wären wohl das Chamer Becken und die Bundesstraße 14 potenzielle atomare Sprengplätze gewesen, schätzt er.

Es bleibt die Wut

Wie "top secret" die Pläne wirklich waren, die Kurt Steindecker damals laut eigenen Angaben vom Boden des Fliegerhorsts aufgehoben hatte, kann heute niemand mehr seriös bewerten. Doch das Erlebnis hat bei dem heute 77-Jährigen Eindruck hinterlassen und auch viel Wut. Er berichtet von Einsätzen mitten in der Nacht zu Beginn seines Wehrdienstes in der Lechfeldkaserne im Landkreis Augsburg. Der Alarm tobte. Waffen und Soldaten wurden in Fahrzeuge verladen. "Uns wurde gesagt: Der Russe steht hinter Augsburg." Er und seine Kameraden hätten unvorstellbare Angst gehabt. "Wir dachten, wir sind jetzt im Krieg. Ich habe damals meinen Kameraden gefragt: ‚Warten wir jetzt auf den Russen oder geh ma' stiften?‘" Ein Kamerad sei völlig ausgerastet. "Der hat alles kurz und klein geschlagen, auch Tische und Schränke." Der Alarm stellte sich später als Übung heraus.

Dieses Beispiel zeigt nochmals und lässt besser einordnen, als wie realistisch damals ein Angriff des Warschauer Paktes empfunden wurde. Und wie groß der Schock in der Bevölkerung gewesen sein muss, als sie von den Atom-Plänen bei einer möglichen Vergeltung erfahren hat. "Ich war schon von den Amerikanern enttäuscht. Ich dachte eigentlich, sie sind unsere Freunde", sagt Steindecker. Hier sollte man aber unbedingt nochmals darauf hinweisen, dass diese Pläne wohl in der gesamten Nato entwickelt wurden. Die USA waren und sind in dem Militärbündnis zwar ein sehr wichtiger und führender Partner, aber am Ende eben auch nur einer von vielen. Für Kurt Steindecker hat das Erlebnis aus dem Jahr 1965 auf jeden Fall Auswirkungen bis heute.

"Ich reise immer noch nicht in Länder, die an die USA ausliefern. Ich bin da einfach vorsichtig", sagt er. Und während er weiter in seinem Fotoalbum blättert, beginnt sich das Windrad neben ihm wieder zu drehen. Aus der Ferne donnern die Geschütze aus Grafenwöhr.

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