Pfarrer Georg Flierl schreibt: „Alles hat immer zwei Seiten.“ Mit diesem Satz fasst da und dort jemand seine Lebenserfahrung zusammen, gerade dann, wenn es wieder einmal, heftig, eng, schlimm geworden ist. Gilt dieser Satz auch für unsere Corona-Erfahrungen, jetzt mit hartem Lockdown und nächtlicher Ausgangssperre? Oder ist er da völlig abwegig?
Die meisten von uns kennen inzwischen wohl jemanden, der an Corona erkrankt ist oder war. Manche kannten unter Umständen jemanden näher, der mit oder an Corona verstorben ist. Ab und an ist bei Genesenen von Nachwirkungen zu hören, die nicht vergehen, die die Gesundheit und die Lebensqualität stark beeinträchtigen. Finanzielle Nöte, Existenzängste sind das nächste. Dazu kommen Belastungen für die Psyche, für die Seele, insbesondere bei Kindern, den alten oder kranken Menschen. Der Lockdown hat an vielen Stellen heftig in unseren gewohnten Alltag und Lebensrhythmus eingegriffen. Vieles schmerzt.
Rückzug in die Wüste
Kirchlich kennen wir so etwas wie den Lockdown oder Shutdown – wörtlich heißt das ja abgesperrt, weggesperrt – schon viel länger. Einsiedler, Anachoreten, die sich in die Einsamkeit, in die Abgeschiedenheit freiwillig zurückgezogen haben, um dort ganz für Gott zu leben, gibt es vom Anfang des Christentums an. Die große adventliche Gestalt Johannes des Täufers steht hier Pate mit seinem Rückzug in die Wüste. Ganz große Bedeutung hat der heilige Antonius, der Einsiedler (251 bis 356) erlangt, der sich in die ägyptische Wüste zurückgezogen hat. Viele fühlten sich damals von dieser Lebensweise angezogen.
Aus dieser Einsiedlerbewegung entstanden die ersten Mönchsgemeinschaften. Mönchische Gemeinschaften, klösterliche Gemeinschaften zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie zumindest Elemente der Abgeschiedenheit, der Zurückgezogenheit, der freiwilligen Selbstisolierung vom hektischen, weltlichen Treiben in ihre Lebensform mit einbeziehen. Dafür hat man kein englisches Wort geprägt, sondern ein lateinisches: „Klausur“, zu Deutsch „zugeschlossen, weggeschlossen“, also „Lockdown“ auf kirchlich.
Leben etwas entschleunigen
Die Erfahrung, die hinter diesem freigewählten Lockdown aus religiösen Gründen steht, ist jene, dass innerlich Räume, Freiräume entstehen, in die Gott eintreten kann mit seinen Anliegen an uns Menschen. Im alltäglichen Getriebe sind wir oft arg in Beschlag genommen, wir sind belagert und beladen mit unseren Aufgaben, Verpflichtungen, Verantwortlichkeiten, die unseren inneren Raum, unsere innere Kraft, unser Denken und Planen total beanspruchen. Sich da ein wenig freizuschaufeln, ist unter „normalen“ Umständen schwierig genug. Nicht einmal die Rentner oder Pensionisten schaffen das immer. Viele spüren es, dass das nicht alles sein kann: Immer getrieben von unaufschiebbaren Verpflichtungen oder sich selber antreiben gerade in der kostbaren Freizeit, weil ich mir dieses oder jenes vorgenommen habe, weil ich mir selber, der Ehepartner, die Familie einbilde, dieses oder jenes muss jetzt unbedingt noch sein.
Wenn es zutrifft, dass „alles immer zwei Seiten hat“, dann ist das für mich die zweite Seite am Lockdown, dass er uns zumindest ab und an zwingt, etwas entschleunigter in unserem Leben unterwegs zu sein. So mancher hat es mir bestätigt, dass er diese Seite des Lockdowns als äußerst wohltuend wahrgenommen hat. Vielleicht gelingt es uns später einmal, diese Erfahrung über den Corona-Lockdown hinüberzuretten?
Kein Anlass zum Verzagen
Lockdown-Erfahrungen im ganz wörtlichen Sinn sind dem Apostel Paulus nicht nur einmal in seinem Leben zuteil geworden. Seinen Brief an die Christen in Philippi schreibt er aus dem Gefängnis in Ephesus. An einer Stelle (Phil 4,12f) spricht er davon, dass er gelernt hat, sich in jeder Lage zurechtzufinden: „Ich weiß Entbehrungen zu ertragen, ich kann im Überfluss leben. In jedes und alles bin ich eingeweiht: in Sattsein und Hungern, Überfluss und Entbehrung. Alles vermag ich durch ihn, der mir Kraft gibt.“
Für den Apostel ist sein Lockdown, die brutale Beschränkung seiner Möglichkeiten kein Anlass zum Jammern und Verzagen. Natürlich empfindet er die Situation als extrem belastend. Die Gefängnisse in der Antike waren kaum zu ertragen. Aber er wendet seinen inneren Blick auf den, „der ihm Kraft gibt und durch den er alles vermag“: Jesus Christus. Genau das ist es, was wir im Advent, an Weihnachten, in all unseren Bedrängnissen tun sollen: Unseren Blick richten auf Jesus Christus, durch den auch wir uns in jeder Lage zurechtfinden können. In diesem Sinne gesegnete und frohe Weihnachten 2020.
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