Von der Gastarbeiterin in Wurz in den Bundestag nach Berlin

Wurz bei Püchersreuth
01.07.2022 - 09:53 Uhr
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Eine junge Frau träumt in Istanbul vom Leben im Ausland, am liebsten in Paris. 1972 verlässt sie ihre Heimat und landet als Gastarbeiterin in Wurz. Viel später wird sie Bundestagsabgeordnete. Erinnerungen an eine Ankunft vor 50 Jahren.

Azize Tank hat es im April auf die Titelseite des Zeit-Magazins geschafft. Die 72-Jährige lebt heute in Berlin. Sie ist eine von rund 700.000 Ausländerinnen, die Anfang der Siebzigerjahre nach Deutschland kamen. In der Reportage wird das Leben einiger dieser Frauen beleuchtet. Autorin Laura Cwiertnia war aufgefallen, dass anlässlich des Jubiläums "60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen für Arbeitskräfte" 2021 die Geschichte der Gastarbeiter fast ausschließlich aus männlicher Perspektive erzählt wurde.

Eine dieser fast vergessenen Frauen ist Azize Tank. Sie stammt aus einer liberalen Istanbuler Familie und wuchs mit vier Brüdern auf, vergöttert vom Vater. "Ich durfte alles, was die Jungs auch machten, zum Beispiel Sport." Trotzdem litt das Mädchen an Fernweh. "Als Kind wollte ich zum Zirkus, weil der rumgereist ist," lacht die Frau mit der weißen Lockenmähne ins Telefon. Nach Gymnasium und Sekretärinnenschule sowie ersten Berufserfahrungen beim Fernmeldeamt war die Abenteuerlust nicht mehr zu bändigen. Die Traumstadt Paris war unerreichbar, aber Deutschland schien auch nicht schlecht. Wie viele andere ließ sie sich 1972 als 22-Jährige anwerben.

"Ich wusste nur, es geht in einen kleinen Ort und in die Fabrik. Und dann kommen wir in Wurz an. Ich dachte zuerst, ich bin in einem anatolischen Dorf." Die Frauen alle mit Kopftuch und Kittelschürze. Ein Kulturschock für die Schönheit mit den langen schwarzen Haaren. "Ich trug Mini, ich trug Maxi und hatte Spaß an Mode." Die nächste Enttäuschung ließ nicht lang auf sich warten. Ein Gasthof mit winzigen Fremdenzimmern in einem ehemaligen Bauernhof als Quartier. Vier junge Türkinnen auf wenigen Quadratmetern: zwei Stockbetten, Waschbecken, Kochplatte, Tisch, Schrank, Etagentoilette. "Wir mussten nacheinander aufstehen zum Waschen, sonst wäre es zu eng gewesen." Alles noch erträglich, doch der Geruch aus dem Schweinestall hinter dem Haus war die ersten Wochen kaum auszuhalten. Wie der Gasthof hieß und wo er war, weiß Tank nicht mehr. Im neuen Umfeld hatten alle nur Vornamen. "Der Wirt hieß Thomas. Von ihm hab ich meine ersten Worte Deutsch gelernt."

Jeden Tag Tränen

Keine Sprachkenntnisse, allein in einem Nest in der Fremde - die jungen Frauen fühlten sich hilflos, auch wenn die Wurzer freundlich "Grüß Gott" sagten und die Leute im Lebensmittelgeschäft sehr nett waren. "Ich konnte nicht kochen und waschen, konnte nicht mit meiner Familie sprechen, ich habe jeden Tag geweint." Die Heimweh-Tränen flossen auch am Arbeitsplatz in der Porzellanfabrik Windischeschenbach. Zum Glück gab es eine mütterliche Kollegin. "Eine deutsche Frau namens Alice oder Alise. Alle haben immer gescherzt: Alise und Azize. Die hat mich in den Arm genommen und getröstet. Sie hat mir signalisiert: Wenn es nicht mehr geht, kommst du zu mir. Danach konnte ich weiterarbeiten."

Im Berufsleben der Gastarbeiterinnen ist manches aus heutiger Sicht unvorstellbar. Das Zeit-Magazin berichtet von Fällen, wo den Neuankömmlingen nach der Ankunft vom Arbeitgeber der Pass abgenommen wurde, damit keiner wegläuft. Das ist aus Windischeschenbach nicht bekannt, das Einstellungsprozedere mutet trotzdem seltsam an. "Wir mussten uns zur ärztlichen Untersuchung bis auf die Unterhose ausziehen. Dann hat man unsere Wirbelsäulen und die Zähne angeschaut, um zu sehen. ob wir für die Arbeit geeignet waren." Azize Tank vermutet dahinter etwas anderes: "Die wollten sichergehen, dass keine schwanger war, die dann bald ausfällt."

Den ersten Tag in der Fabrik hat Tank noch genau vor Augen. "Wir waren zehn Frauen und ein Dolmetscher. Gegenüber stand eine Gruppe von Abteilungsleitern in weißen Kitteln. Von denen hat ein einziger gelächelt. Ich hab mich sofort neben ihn gestellt und gesagt, dass ich bei ihm arbeiten will. Ich weiß nur noch, dass er Paul hieß."

Brisanter Brief

Paul war als Vorgesetzter angenehm, dennoch lag einiges im Argen. 300 bis 400 D-Mark samt Überstunden waren der Monatslohn der Türkinnen und Spanierinnen. Weniger als bei deutschen Frauen und bei Männern sowieso. Dazu ein Minizimmer und Schweinedung in der Nase: Azize Tank schrieb im Namen der Kolleginnen einen Brief auf Türkisch, dass es mehr Platz und Waschmaschinen braucht. Adressaten sollten der Bürgermeister und die Gewerkschaft sein. Doch am nächsten Tag wurde sie zum Chef zitiert. Er hatte von der Sache Wind bekommen. "Eine Türkin hat mich verraten. Sie hatte sich dadurch versprochen, dass ihr Mann herkommen kann. Dazu musste er als Familienangehöriger einen Arbeitsplatz vorweisen können." Doch statt des Rauswurfs, mit dem Tank gerechnet hatte, erntete sie Verständnis beim Direktor. "Er bat bloß, dass ich den Brief nie abschicke."

Der Einsatz für Arbeitnehmer- und Frauenrechte hat Tank zeitlebens begleitet. In Windischeschenbach hielt sie sich indes noch zurück. "Die Gewerkschaft hat uns angesprochen. Der zuständige Mann war jung und sah sehr gut aus. Ich war aber so erzogen, nicht auf Männer zuzugehen. Wenn ich zur Gewerkschaft gegangen wäre, wäre ich sofort ins Gerede gekommen, dass es wegen dieses Mannes sei."

Auszeit im "Wienerwald"

Ihre Freizeit verbrachten die jungen Türkinnen oft in Weiden. "Die vielen Geschäfte und das Kino, auch wenn wir kein Wort verstanden haben." Gerne hätten die Mädchen mehr deutsches Essen probiert, "aber wir konnten die Karte nicht lesen und hatten Angst, dass wir Schweinefleisch bekommen". Eine Art Stammlokal wurde der "Wienerwald" in der Max-Reger-Straße. "Da waren Bilder abgedruckt, da musste man nur hindeuten."

Nach einem Jahr endete Tanks Arbeitsvertrag. Sie zog weiter nach Berlin, wo sie Freunde hatte. Einige Stationen ihres Lebens nach dem Druck auf die Schnellvorlauf-Taste: Verkäuferin, Heirat 1974, zwei Töchter, Sozialarbeiterin, Gründerin eines türkischen Frauenvereins, Migrationsbeauftragte im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf, Bundestagsabgeordnete für die Linke 2013 bis 2017. Nach Wurz kam sie ein einziges Mal zurück, 1978: "Da war meine Tochter Gün vier. Ich wollte dem Großstadtkind mal zeigen, wie es auf dem Land aussieht." Irgendwas scheint hängengeblieben zu sein. Gün Tank hat einen Roman geschrieben, der im September im Fischer-Verlag erscheint. Er heißt "Die Optimistinnen" und beginnt so: In den Siebzigerjahren kommt die 22-Jährige Nour als Gastarbeiterin in die Oberpfalz.

Deutschland & Welt04.10.2021
Hintergrund:

Zur Person: Azize Tank

  • Geboren am 1. Januar 1950
  • Ausbildung als Beamtin im türkischen Post- und Fernmeldewesen
  • 1972-1973 Arbeiterin in der Porzellanfabrik Windischeschenbach
  • 1973 Umzug nach Berlin
  • Ausbildung als Sozialarbeiterin
  • Arbeit vor allem mit Kindern, Jugendlichen und Frauen mit Migrationshintergrund
  • Lange Zeit aktiv in der Frauen- und Friedensbewegung
  • 1990-2009 Migrationsbeauftragte im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf
  • Verheiratet mit Rechtsanwalt Hans-Eberhard Schultz, zwei erwachsene Töchter
  • 2011 Mitgründerin der Eberhard-Schultz-Stiftung für soziale Menschenrechte und Partizipation
  • 2013-2017 als Parteilose Bundestagsabgeordnete der Linken im Wahlkreis Berlin-Tempelhof
 
 

Kommentare

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Helga Erdmann

Ein sehr interessanter Artikel über eine beeindruckende Frau!

02.07.2022