Es war dieser Moment, in dem ihr klar wurde, dass sie wieder hierher kommen muss. Vor der Kinderorthopädin Annemarie Schraml liegt auf dem OP-Tisch ein kleiner Patient, dem sie eine Zukunft schenkt, weil sie ihn von seiner körperlichen Behinderung befreit. Gleichzeitig erscheint am Fenster vor dem OP-Saal des Nkoaranga-Krankenhauses im afrikanischen Tansania eine Mutter mit ihrem Sohn auf dem Arm. "Der Bub hatte extrem verkrümmte Beine", erinnert sich Dr. Annemarie Schraml nach mehr als 20 Jahren. Die Mutter bittet schließlich die Ärztin, auch ihr Kind kostenlos zu behandeln. "Das war ein schwerer Moment. Ich musste nein sagen. Wir hatten doch keine Zeit und kein Material mehr. Es waren die letzten Tage unseres Aufenthalts." Dann sagt die Ärztin aus Waldsassen einen Satz, an den sie sich heute noch erinnert. "Schauen wir mal. Vielleicht kommen wir im nächsten Jahr wieder."
Und sie kam wieder. Wieder und immer wieder. Seit ihrem ersten Einsatz 2000 behandelt Kinderorthopädin Dr. Annemarie Schraml aus Waldsassen mehrmals im Jahr mit einem deutsch-afrikanischen Ärzteteam kostenlos Kinder und Jugendliche in Tansania, die unter Deformierungen an Armen und Beinen leiden. 32 Einsätze waren es schon, nur die Coronapandemie zwingt die 69-jährige unermüdliche Kämpferin aus der Oberpfalz derzeit zu einer Pause ihres Projekts Feuerkinder.
Sobald das Reisen aber wieder möglich ist, wird sie sich wieder auf den Weg machen. Davon werden die Hörer einer Episode unseres Podcasts #Oberpfälzerin - starke Frauen, starke Stimmen über die spannende Waldsassenerin ebenso überzeugt sein.
Beeindruckende Karriere, doch das Herz ist in Tansania
Annemarie Schraml hat einiges zu erzählen. Zum Beispiel, dass sie eigentlich Sonderschullehrerin werden wollte. Doch die Besuchsdienste im Krankenhaus von Waldsassen, die sie als 14-Jährige übernimmt, weil sie sich in der katholischen Jugend engagiert, zeigen ihr, dass Medizin faszinierend sein kann. Nach dem Abitur 1973 am Tirschenreuther Gymnasium studiert Schraml Medizin an der Uni in Erlangen. Verschiedene berufliche Stationen bringen sie aber nicht wieder zurück in die Heimat Mitterteich, wo sie doch eigentlich eine Hausarztpraxis übernehmen wollte.
Nein, Annemarie Schraml macht eine beeindruckende Karriere in der Orthopädie. Assistenzärztin, Oberärztin, Chefärztin und mit 60 Jahren wechselt sie schließlich an die renommierte Cnopf'sche Kinderklinik in Nürnberg, um eine Kinderorthopädische Abteilung aufzubauen. 2017 geht sie nach einer beachtlichen Laufbahn in der Medizin in den Ruhestand. Das macht sie eigentlich schon zu einer starken Oberpfälzerin, doch ihr Engagement auf einem anderen Kontinent liegt ihr noch mehr am Herzen. "Fast meine zweite Heimat", wie sie selbst sagt.
Von ihren "Feuerkindern" berichtet Annemarie Schraml im Podcast und davon, wie sich das Nkoaranga-Krankenhaus in den vergangenen Jahren dank vieler Spenden - vor allem auch aus der Oberpfalz - entwickelt hat. Denn das ist Annemarie Schraml wichtig: "Irgendwann soll die Klinik alleine funktionieren. Auch wenn es vielleicht finanzielle Hilfe oder Materiallieferungen aus Deutschland geben muss. Dann komme ich nur noch nach Tansania, um das wunderschöne Land zu genießen und um Menschen zu besuchen."
Die Menschen. Sie müssen der Magnet sein, warum Annemarie Schraml immer aufs Neue in das Flugzeug nach Tansania steigt. "Jedes Mal bei der Landung habe ich Herzklopfen." Was sie wohl erlebe? Bei der Ankunft erwarte sie und das deutsche Ärzteteam jedes Mal ein 20-köpfiges Empfangskomitee, das Blumenketten um den Hals trägt. "Vor Corona", stellt Schraml klar. Es sei die Dankbarkeit der Menschen, die sie berühre. "Ich habe viele liebevolle Menschen kennengelernt, die in großer Armut leben." Doch ihre Ausstrahlung sei enorm.
„O-Beine oder ein Klumpfuß sind zwar nicht lebensbedrohlich“, sagt die Ärztin. „Aber wenn ein Kind nicht laufen kann, dann kann es nicht zur Schule gehen.“ Und Bildung sei schließlich der Schlüssel zu einem erfolgreichen Leben. Jedes Kind, jeder junge Mensch, der sich frei bewegen kann, kann in die Schule gehen, eine Ausbildung beginnen und damit seine eigene Zukunft in die Hand nehmen. Davon ist Schraml überzeugt.
Aufgabe als Christin zur Nächstenliebe
Die Waldsassenerin betont, dass es nichts Besonderes sei, was sie in Afrika leistet. "Es ist meine Aufgabe als Christin, Verantwortung zu übernehmen." Es sei rein zufällig gewesen, dass sie im reichen Deutschland geboren wurde und sich damit für sie Möglichkeiten ergeben hätten. Sie zieht die Urgemeinde als Vergleich her. Wer viel hat, gibt ab, um denjenigen zu geben, die wenig haben. In der Kirche werde das erst wieder vertreten, seit Papst Franziskus an der Spitze steht. "Aber ich will ja nun keine Predigt halten."
Wie ein biblisches Wunder muss es sich aber für ein kleines Mädchen angefühlt haben, als die Waldsassenerin zum ersten Mal in Tansania auftauchte. Denn es hatte sich einen Fremdkörper in den Fuß eingetreten, der sich abgekapselt hatte. Das Kind eines Diakons, der die deutschen Ärzte nach Afrika bat, war stark behindert beim Gehen. "Für uns war es ein kleiner Eingriff, aber für das Mädchen, das wieder auftreten konnte, war es eine Riesenfreude - auch für die Familie", erinnert sich die Oberpfälzerin an ihre erste "OP" dort.
Eine "richtige" Operation sei es ja gar nicht gewesen, weil sich Schraml vor Infektionen fürchtete und daher keine Behandlungen am Knochen durchführte. Jahre später besuchte sie das Mädchen und seine Familie wieder. "Sie hatten das Beste an Essen aufgefahren, das sie hatten, um ihren Dank auszusprechen. Es ist eine Freude die Patienten und Familien zu sehen. Manchmal ist es richtig bewegend." Was Schraml besonders daran gefällt: "Es ist ein erster Schritt, einen Beruf oder ein Studium aufzunehmen und der Spirale der Armut zu entkommen." Das entspreche genau dem nachhaltigen Gedanken des Projekts.
Nun bleibt zu hoffen, dass Dr. Annemarie Schraml bald wieder in ihre zweite Heimat fliegen kann. Das Coronavirus bremste natürlich auch ihre Pläne aus. Viele Kinder musste sie vertrösten, OP-Termine verschieben - auf vorerst unbestimmte Zeit.
Das Projekt Feuerkinder
- Dr. Heinz Giering, Anästhesist und Nürnberger Notarzt, reiste 1998 durch den Norden Tansanias. Seine erste Station war das Rehabilitation Center in Usa River. Dort werden behinderte Jugendliche mit dem Ziel ausgebildet, ein eigenständiges Leben führen zu können.
- 2000 reiste Gierings Kollegin Dr. Annemarie Schraml für einen "einmaligen" Einsatz mit nach Tansania. 40 Patienten wurden damals behandelt.
- "Feuerkinder" sind Verbrennungsopfer. In Tansania wird häufig über einen offenen Feuerstelle gekocht. Zunächst wurden ihre Verbrennungen und Narben versorgt. Nach und nach verlagerten sich die Schwerpunkte auf die Korrektur von Klumpfüßen und extrem verbogenen O- und X-Beinen.
- Klumpfüße sind eine angeborene Fehlstellung des Fußes mit unterschiedlichen Ursachen. Der Fuß ist nach innen gedreht, im extremen Fall schauen sich die beiden Fußsohlen gegenseitig an. Die Achillessehnen sind massiv verkürzt. In Deutschland wird meist nach der Geburt die Fehlbildung korrigiert. In Europa kommt etwa ein Kind von 1000 Geburten mit Klumpfuß auf die Welt. In Afrika sind es 3 von 1000.
- Beinahe alle benötigten Materialien, Instrumente, Medikamente, Gipsbinden werden von Spendengeldern in Deutschland gekauft und in das ostafrikanische Land transportiert.
- Das Projekt ist Hilfe zur Selbsthilfe: Während des Jahres werden im Nkoaranga Krankenhaus Patienten mit orthopädischen Erkrankungen, Knochenbrüchen und allgemeinchirurgischen Erkrankungen behandelt. Möglich ist das durch die vom Projekt finanzierte Aus- und Weiterbildung von einheimischen Ärzten.
Annemarie Schraml - eine starke Oberpfälzerin mit einer starken Stimme
Dr. Annemarie Schraml aus Waldsassen (Landkreis Tirschenreuth) ist Gast des Podcasts #Oberpfälzerin – starke Frauen, starke Stimmen der beiden Redakteurinnen Stephanie Wilcke und Miriam Wittich von Oberpfalz-Medien.
Die beiden stellen spannende und interessante Frauen aus der Oberpfalz vor, die etwas zu erzählen haben. Mal kann es ein Schicksalsschlag sein, nach dem die Frau wieder aufsteht und anderen Mut macht. Mal geht es um ein bemerkenswertes soziales Engagement. Was alle Oberpfälzerinnen gemeinsam haben? „Sie inspirieren“, sind die Macherinnen des Podcasts überzeugt, „nicht nur Frauen, sondern auch Männer.“
Der Podcast soll den „starken Oberpfälzerinnen“ eine starke Stimme geben und sie auf ein Podest heben, damit ihre Leistung von anderen gesehen wird.
Zu hören gibt es die Episoden von #Oberpfälzerin – starke Frauen, starke Stimmen bei den Streaming-Anbietern Spotify, Apple und Google Podcasts sowie Deezer.

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